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Verborgene Gruft enthüllt die Geheimnisse einer uralten Zivilisation!

Dylan runzelte die Stirn und drückte die Delete-Taste auf ihrem Laptop. Sie brauchte einen anderen Titel für den Artikel, an dem sie arbeitete - es müsste irgendwie reißerischer klingen und weniger nach dem National Geographie. Sie zermarterte sich das Hirn für eine Alternative. So reißerisch musste es klingen, dass es an den Zeitungsständen die allwöchentlichen Schlagzeilen über die neueste Entziehungskur diverser Hollywood-Sternchen übertönte.

Uraltes Menschenopfer in Draculas Hinterhof entdeckt!

Das war schon besser. Dracula war zwar etwas weit hergeholt, schließlich lag Tschechien Hunderte von Kilometern von der Burg des blutgierigen Vlad Tepes in Rumänien entfernt, aber es war immerhin ein Anfang. Dylan streckte die Beine auf ihrem Hotelbett aus, balancierte ihren Laptop aus und tippte den ersten Entwurf ihrer Story.

Als sie beim zweiten Absatz angekommen war, hielt sie inne.

Drückte dann die Löschtaste, bis die Seite wieder leer war.

Die Worte wollten einfach nicht kommen. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Diese übersinnliche Erscheinung in den Bergen hatte sie schon nervös gemacht, aber es war das Telefongespräch mit ihrer Mutter gewesen, das Dylan wirklich von der Arbeit abgelenkt hatte.

Sharon hatte sich bemüht, fröhlich und stark zu klingen. Sie hatte ihr alles über eine Benefizveranstaltung erzählt, die ihre Organisation in ein paar Tagen auf einem Flussdampfer abhalten würde, auf die sie sich schon sehr freute.

Nachdem sie erst neulich wieder ein junges Mädchen an das Leben auf der Straße verloren hatte - eine junge Ausreißerin namens Toni, von der Sharon wirklich gedacht hatte, dass sie es schaffen würde -, hatte sie Pläne für ein neues Programm ausgearbeitet, die sie Mr. Fasso, dem Gründer der Stiftung für jugendliche Ausreißer, unterbreiten wollte.

Sharon hoffte auf eine persönliche Audienz bei ihm. Schon öfter hatte sie zugegeben, dass sie in diesen Herrn ein wenig verknallt war, was niemanden überraschte, ihre Tochter am wenigsten.

Während ihre Mutter sich oft und gern verliebte, war Dylan diesbezüglich das genaue Gegenteil. Sie hatte ein paar Beziehungen gehabt, aber nie war es etwas wirklich Ernstes geworden. Das hatte sie nie zugelassen. Ein zynischer Teil ihres Selbst hatte seine Zweifel an dem, Für immer'-Konzept. Dagegen konnten auch die Überzeugungsversuche ihrer Mutter nicht viel ausrichten, die immer wieder sagte, dass Dylan eines Tages schon den Richtigen finden würde. Und zwar genau dann, wenn sie es am wenigsten erwartete.

Sharon war ein unabhängiger Geist mit einem großen Herzen, auf dem unwürdige Männer nur allzu oft herumgetrampelt hatten, und nun hatte auch noch das Schicksal mit seiner ganzen Ungerechtigkeit zugeschlagen. Und doch lächelte sie, nahm ihre ganze Willenskraft zusammen und machte einfach weiter. Sie hatte gekichert, als sie Dylan anvertraut hatte, dass sie sich für die Flusskreuzfahrt extra ein neues Kleid gekauft hatte. Sie hatte es ausgesucht, weil es schmeichelhaft geschnitten war und weil seine Farbe so sehr der Farbe von Mr. Fassos Augen ähnelte. Aber während Dylan mit ihrer Mutter herumalberte und sie davor warnte, nicht allzu schamlos mit dem offenbar gut aussehenden und unverheirateten Philanthropen zu flirten, brach ihr fast das Herz.

Sharon gab sich solche Mühe, ihr altes, dynamisches Selbst zu sein, aber Dylan kannte sie zu gut. Dass ihre Stimme etwas zu atemlos klang, konnte nicht an der schlechten Übersee Verbindung des böhmischen Städtchens Jicín liegen, wo Dylan und ihre Reisegefährtinnen die Nacht verbrachten. Sie hatte nur etwa zwanzig Minuten mit ihrer Mutter gesprochen, aber als sie auflegten, hatte Sharon sich bereits völlig erschöpft angehört.

Dylan stieß einen zittrigen Seufzer aus, klappte ihren Laptop zu und legte ihn neben sich auf das schmale Bett. Vielleicht hätte sie doch mit Janet, Marie und Nancy auf ein Bier und Bratwürste in die Kneipe gehen sollen, statt im Hotel zu bleiben, um zu arbeiten. Sie hatte vorhin nicht viel Lust auf Gesellschaft gehabt - um ehrlich zu sein, hatte sie die auch jetzt nicht -, aber je länger sie allein in diesem winzigen Einzelzimmer saß, desto deutlicher wurde ihr bewusst, wie einsam sie wirklich war. Die Stille um sie herum machte es schwer, an etwas anderes zu denken als an die entsetzliche, endgültige Stille, die ihr Leben erfüllen würde, sobald ihre Mutter...

Oh Gott.

Dylan war nicht einmal bereit, dieses Wort auch nur zu denken.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Das Fenster im ersten Stock, das auf die Straße hinausging, war einen Spalt weit geöffnet, um etwas Luft hereinzulassen, aber Dylan fühlte sich beengt, erdrückt. Sie öffnete das Fenster ganz und nahm einen tiefen Atemzug, während sie zusah, wie unten auf der Straße Touristen und Einheimische vorbeiflanierten.

Und verdammt noch mal, da draußen war wieder die Erscheinung.

Die Frau in Weiß stand mitten auf der Straße, unbehelligt von den Passanten und dem Verkehr, der sie umrauschte. Ihr Bild war durchsichtig im Dunkeln, der Umriss viel unbestimmter als vorhin, und er verblasste jede Sekunde mehr. Aber ihre Augen waren wieder fest auf Dylan gerichtet. Dieses Mal sprach die Erscheinung nicht, sondern starrte sie nur mit einer trostlosen Resigniertheit an, die Dylans Herz schwer werden ließ.

„Geh weg“, flüsterte sie der Erscheinung zu. „Ich weiß nicht, was du von mir willst, und momentan habe ich wirklich andere Sorgen.“

Ein Teil von ihr schnaubte verächtlich. Gerade jetzt, wo ihr Job an einem seidenen Faden hing, konnte es nicht in ihrem Sinn sein, Besucher von der Anderen Seite abzuweisen. Nichts würde ihrem Chef, Coleman Hogg, eine größere Freude machen als eine Reporterin, die wirklich und wahrhaftig die Fähigkeit besaß, Tote zu sehen. Zur Hölle noch mal, der opportunistische Mistkerl würde wahrscheinlich sofort einen brandneuen Geschäftszweig aufziehen, mit ihr als Hauptattraktion.

Sonst noch was.

Einem einzigen Mann hatte sie erlaubt, die seltsame, wankelmütige Gabe, mit der sie geboren worden war, zu Geld zu machen - und was war daraus geworden? Dylan hatte ihren Vater nicht mehr gesehen, seit sie zwölf war. Bobby Alexanders letzte Worte an seine Tochter, bevor er für immer aus der Stadt und aus ihrem Leben verschwand, war eine üble Tirade von Obszönitäten gewesen, vorgetragen mit offenem Abscheu.

Es war einer der schlimmsten Tage in Dylans Leben gewesen, aber sie hatte ihre Lektion daraus eindrucksvoll gelernt: Nämlich, dass es nur äußerst wenige Menschen gab, denen man vertrauen konnte. Wenn man überleben wollte, hielt man sich am besten an Vertrauensperson Nummer eins: sich selbst.

Diese Lebensphilosophie hatte ihr immer gute Dienste geleistet.

Eine einzige Ausnahme gab es natürlich: ihre Mutter. Sharon Alexander war Dylans Fels in der Brandung, ihre einzige Vertraute und der einzige Mensch, auf den sie in jeder Hinsicht zählen konnte. Sharon kannte Dylans Geheimnisse, all ihre Hoffnungen und Träume. Sie kannte auch ihre Probleme und Ängste ... alle, außer einer. Dylan versuchte immer noch, für Sharon tapfer zu sein. Sich nicht anmerken zu lassen, wie hilflos sie sich fühlte, nachdem der Krebs zurückgekommen war. Diese Angst wollte sie sich noch nicht eingestehen oder ihr größeren Raum geben, indem sie sie laut aussprach.

„Scheiße“, flüsterte Dylan irritiert, als ihre Augen zu brennen begannen, ein Zeichen, dass ihr gleich die Tränen kommen würden.

Sie zwang sie mit derselben stählernen Selbstbeherrschung nieder, die ihr schon fast ihr ganzes Leben lang geholfen hatte. Dylan Alexander weinte nicht. Sie hatte nicht mehr geweint, seit sie das verratene kleine Mädchen mit dem gebrochenen Herzen gewesen war, das zugesehen hatte, wie ihr Vater in die Nacht davonraste.

Nein, es hatte ihr noch nie gutgetan, sich in Selbstmitleid und Schmerz zu suhlen. Wut war eine viel bessere Antriebskraft, um mit dem Leben klarzukommen. Und wo die Wut allein nicht ausreichte, gab es nur wenige Dinge, die man nicht mit einer gesunden Dosis Verdrängung in den Griff bekam.

Dylan wandte sich vom Fenster ab und fuhr mit den nackten Füßen in ihre alten, ausgelatschten Wanderschuhe. Weil sie es nicht für sicher hielt, den Laptop auf dem Zimmer zu lassen, ließ sie ihn in ihre silberne Schultertasche gleiten, schnappte sich ihren Geldbeutel und ging nach draußen, um Janet und die anderen zu suchen. Etwas Gesellschaft und Geplauder wären jetzt vielleicht doch gar nicht so schlecht.

 

Bei Einbruch der Dunkelheit waren die meisten Menschen, die tagsüber durch die Wälder und über die Bergpfade trampelten, fort. Jetzt, wo es draußen vor der Höhle ganz dunkel geworden war, war weit und breit keine Seele mehr in der Nähe, um die Explosion zu hören, die Rio im lichtlosen Felsgestein vorbereitete.

Er hatte gerade genug Plastiksprengstoff, um den Höhleneingang für immer zu versiegeln, aber nicht genug, um den ganzen verdammten Berg in die Luft zu jagen. Dafür hatte Nikolai schon gesorgt, bevor der Orden Rio allein gelassen hatte, um den Ort zu sichern. Dafür konnte man Gott danken, denn Rio traute seinem mürben Hirn nicht mehr zu, sich an Mengenangaben zu erinnern.

Er stieß einen satten Fluch aus, während er an einem der winzigen Kabel der Zündkapsel herumfummelte. Sein Blick begann schon zu verschwimmen, was ihn nur noch mehr verärgerte. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und benetzten die überlangen Haarsträhnen, die ihm in die Augen hingen. Mit einem Aufknurren fuhr er sich mit der Hand über Gesicht und Kopf und starrte wütend auf die blassen Klumpen Plastiksprengstoff vor ihm.

Hatte er die Kabelenden schon in die Masse gesteckt?

Er erinnerte sich nicht mehr ...

„Konzentrier dich, Idiot“, schnauzte er sich an. Es machte ihn ungeduldig, dass etwas, das ihm immer so leichtgefallen war - bevor ihm zu Hause in Boston diese Lagerhalle um die Ohren geflogen war, war ihm alles leichtgefallen -, ihn nun Stunden kostete.

Dazu kam noch, dass sein Körper ohne seine lebenswichtige Nahrung, das Blut, geschwächt war und nur noch im Schneckentempo funktionierte. Er war schlichtweg ein Wrack. Unfähig und unnütz, das war alles, was er war.

Eine Woge von Selbsthass trieb ihn an, als er seinen Finger in einen der knetgummiähnlichen Blöcke Plastiksprengstoff bohrte und ihn aufriss.

Gut. Der Auslöser war drin, genau wo er sein sollte.

Es tat nichts zur Sache, dass er sich nicht daran erinnern konnte, ihn hineingetan zu haben. So zerknetet, wie einer der anderen Klumpen aussah, musste er dieselbe Übung schon mindestens einmal gemacht haben. Doch auch das war ihm jetzt egal. Er hob den gesamten Sprengstoffvorrat auf und trug ihn zum engen Höhleneingang hinüber.

Dort drückte er die Masse in Klüfte und Vertiefungen im Sandstein, genau wie Niko ihn angewiesen hatte. Dann ging er in den hinteren Teil der Höhle zurück, um die Zündkapsel zu holen.

Verdammt!

Mit der Verkabelung des verdammten Dings stimmte etwas nicht.

Er hatte die Kabel beschädigt. Wie? Und wann?

„Verdammte Scheiße!“, brüllte er und starrte auf das Gerät hinunter, wie benebelt von einem plötzlichen, heftigen Wutanfall.

Ihm war schwindelig vor Zorn. Um ihn drehte sich alles, so schnell, dass seine Knie nachgaben. Er brach auf den harten Boden nieder, als sei sein Körper aus Blei. Er hörte, wie die Zündkapsel irgendwo in den Staub rutschte, aber er griff nicht nach ihr. Seine Arme waren zu schwer, und in seinem Kopf herrschte völlige Leere. Sein Bewusstsein schwebte irgendwo über ihm, losgelöst von der Realität, als wollte sein Verstand sich von dem Wrack abtrennen, das sein Körper war und ihn gefangen hielt, und davonfliegen.

Ein furchtbarer Schwindel hielt ihn niedergedrückt, und er wusste, wenn er sich jetzt nicht schnell wieder in den Griff bekam, würde er wieder einen Filmriss haben.

Es war dumm gewesen, nicht mehr auf die Jagd zu gehen. Er hatte seit Wochen keine Nahrung zu sich genommen. Und er war ein Stammesvampir. Er brauchte menschliches Blut, um bei Kräften zu bleiben. Sein Überleben hing davon ab. Blut würde ihm helfen, die Schmerzen und den Wahnsinn in Schach zu halten. Aber er wusste, dass er sich bei der Jagd nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er würde töten. Zu oft war er zu kurz davor gewesen, seit er hier auf dieser hohen Felsklippe im Wald angekommen war.

Bei den wenigen Gelegenheiten, wenn der Hunger ihn hinausgetrieben hatte, war er fast von den Menschen entdeckt worden, die in den umliegenden Kleinstädten und Dörfern lebten. Und seit der Explosion, die er vor einem Jahr in Boston überlebt hatte, war sein Gesicht keines mehr, das man schnell wieder vergaß.

Maldecido.

Das Wort, das ihn anzischte, kam von weit her. Nicht aus der Nacht draußen, sondern aus den Tiefen seiner Vergangenheit, aus seiner Muttersprache.

Marios del diablo.

Comedor de la sangre.

Monstruo.

Selbst durch die Nebel seines gemarterten Verstandes erkannte er seine alten Beinamen. So hatte man ihn seit frühester Kindheit beschimpft. Worte, die ihn immer noch heimsuchten, selbst jetzt noch.

Verfluchter.

Hand des Teufels.

Blutfresser.

Monster. Und all das war er auch, heute mehr denn je. Welche Ironie doch darin lag, dass sein Leben im Verborgenen begonnen hatte, dass er sich in nachtdunklen Wäldern und Hügeln verkrochen hatte wie ein Tier ... nur um auf die gleiche Art zu enden.

„Madre de Dios“, flüsterte er und machte einen schwachen und vergeblichen Versuch, die Zündkapsel zu ergreifen. „Bitte ... lass es mich beenden.“

 

Kaum hatte Dylan ihr leeres Pilsglas abgestellt, als auch schon ein volles vor ihr stand. Es war die dritte Runde am Tisch, seit sie in der kleinen Dorfkneipe angekommen war und sich zu ihren Reisegefährtinnen gesellt hatte - und dieses letzte Glas servierte ihnen der junge Mann hinterm Tresen mit einem extrabreiten Grinsen.

„Das geht aufs Haus, die Damen“, verkündete er mit einem starken Akzent. In dieser ländlichen Kleinstadt war er einer der wenigen Einheimischen, die etwas anderes sprachen als Tschechisch und Deutsch.

„Oh, vielen Dank auch, Vasek“, rief Janet und tauschte kichernd ihr leeres Glas gegen ein volles ein, in dem bernsteinfarbenes Bier schäumte. „Es ist ja so reizend von Ihnen, dass Sie uns alles über Ihr hübsches Städtchen erzählen. Und jetzt laden Sie uns auch noch zum Bier ein. Das wäre doch wirklich nicht nötig.“

„Gern geschehen“, murmelte er.

Seine freundlichen braunen Augen verweilten am längsten auf Dylan. Allerdings verlor das Kompliment etwas an Wirkung, wenn man bedachte, dass ihre Gefährtinnen allesamt alt genug waren, um Mitglieder des amerikanischen Rentnerverbandes zu sein. Auch Dylan war vermutlich fünf oder zehn Jahre älter als der jungenhaft gut aussehende Wirt, aber das hielt sie nicht davon ab, sein offensichtliches Interesse an ihr zu ihrem Vorteil auszunutzen.

Nicht, dass sie Interesse gehabt hätte an Kneipenflirts. Was sie interessierte, war, was Vasek von den Bergen und ihren diversen Legenden erzählt hatte. Der junge Tscheche war in der Gegend aufgewachsen und hatte den Bergrücken, den Dylan am Morgen hinaufgeklettert war, ausgiebig erkundet.

„Es ist ja so wunderschön hier“, sagte Nancy zu ihm. „Die Touristenbroschüre hat nicht gelogen - diese Gegend ist einfach ein Paradies.“

„Und so ein weitläufiges, ungewöhnliches Gebiet“, fügte Marie hinzu. „Ich glaube, wir würden einen ganzen Monat brauchen, um uns das alles anzusehen. Zu schade, dass wir morgen schon wieder nach Prag zurückmüssen.“

„Ja, zu schade“, sagte Vasek und sah Dylan an.

„Was ist mit Höhlen?“ Sie hatte versucht, Fakten für ihre Story zu sammeln, ohne dabei zu auffällig zu wirken. Sie wusste, dass die Einheimischen es nicht schätzten, wenn man vom vorgeschriebenen Wanderweg abkam und auf eigene Faust in den Felsen herumkletterte.

„Auf unserer Karte sind ein paar eingezeichnet, aber ich kann mir vorstellen, dass es noch viel mehr geben muss. Sogar welche, die noch gar nicht entdeckt wurden, oder solche, die nicht öffentlich zugänglich sind?“

Der junge Mann nickte. „Oh ja. Es gibt Hunderte von Höhlen, und auch ein paar Schluchten. Die meisten von ihnen werden immer noch kartografisch erfasst.“

„Dylan hat heute einen alten Steinsarg in einer Höhle gesehen“, plapperte Janet unschuldig und nippte an ihrem Bier.

Vasek lachte leise in sich hinein, sein Gesicht drückte Zweifel aus.

„Sie haben was gesehen?“

„Ich weiß nicht genau, was es war.“ Dylan zuckte lässig die Schultern. Sie wollte nicht zu viel preisgeben, für den Fall, dass ihre Entdeckung wirklich bedeutend war. „Da drinnen war es stockdunkel, ich glaube, die Hitze hat mir einen Streich gespielt.“

„In welcher Höhle waren Sie denn?“, fragte der junge Mann.

„Vielleicht kenne ich sie.“

„Oh, ich weiß nicht mehr genau, wo es war. Es ist ja auch nicht wichtig.“

„Sie sagte, sie hätte dort eine Präsenz gespürt“, zwitscherte Janet wieder. „Hast du es nicht so genannt? Als wäre dort eine ... dunkle Präsenz erwacht, als du in der Höhle warst. So hast du es doch genannt, wenn ich mich recht erinnere.“

„Es war nichts, da bin ich mir sicher.“ Dylan warf einen gequälten Blick über den Tisch. Janet meinte es gut, aber die ältere Frau war einfach entnervend geschwätzig. Und der bedeutsame Blick, den sie ihr jetzt zuwarf, nützte rein gar nichts. Als sich Vasek jetzt neben Dylan an den Tisch lehnte, zwinkerte Janet ihr verschwörerisch zu. Die alte Kupplerin.

„Wissen Sie, es gibt alte Geschichten darüber, dass in diesen Bergen etwas Böses haust“, sagte er und senkte die Stimme zu einem vertraulichen, aber auch belustigten Ton. „Viele alte Legenden warnen vor Dämonen, die in den Wäldern leben sollen.“

„Tatsächlich?“, fragte sie mit gespieltem Schrecken.

„Oh ja. Schreckliche Ungeheuer, die wie Menschen aussehen, aber keine sind. Die Dorfleute waren früher davon überzeugt, dass Monster unter ihnen umgingen.“

Dylan stieß ein verächtliches kleines Schnauben aus und hob ihr Glas. „Ich glaube nicht an Monster.“

„Ich natürlich auch nicht“, sagte Vasek. „Aber mein Großvater schon. Und auch sein Großvater früher, und der ganze Rest meiner Familie, die diese Gegend seit Jahrhunderten bewirtschaftet. Meinem Großvater gehörte das Flurstück direkt am Waldrand. Er sagte, dass er erst vor ein paar Monaten eine dieser Kreaturen gesehen hat. Sie hat einen seiner Feldarbeiter angegriffen.“

„Was Sie nicht sagen.“ Dylan sah den Wirt an und wartete auf eine Pointe, die nicht kam.

„Mein Großvater sagte, es war kurz nach Sonnenuntergang. Er und Matej brachten eben die Geräte für die Nacht in den Schuppen, als Großvater plötzlich vom Feld her ein seltsames Geräusch hörte. Er ging nachsehen, und da lag Matej auf der Erde. Ein anderer Mann beugte sich über ihn und presste Matej den Mund an den Hals - er hatte ihm eine Bisswunde gerissen.“

„Du lieber Himmel!“, keuchte Janet. „Hat der arme Mann überlebt?“

„Hat er. Großvater sagte, bis er zurück in den Schuppen gerannt war, um sich dort irgendwas zu holen, das als Waffe gegen dieses Wesen taugte, lag Matej alleine dort. Er hatte keine Verletzungen, nur ein paar Blutspritzer auf dem Hemd, und er konnte sich an nichts erinnern. Der Mann, der Matej angegriffen hat - oder der Dämon vielmehr, wenn man meinem Großvater Glauben schenken kann -, wurde seither nie wieder gesehen.“

Janet schnalzte mit der Zunge. „Gottchen! Das klingt ja wie direkt aus einem Horrorfilm!“

Nancy und Marie wirkten gleichermaßen entsetzt, offenbar kauften alle drei Vasek die Schauermär ohne Weiteres ab. Dylan blieb natürlich skeptisch. Aber irgendwo in ihrem Hinterkopf fragte sie sich doch, ob ihre Story über eine leere Gruft in einem Berg, in der menschliche Skelettreste verstreut waren, nicht durch einen Augenzeugenbericht über eine Art vampirischen Dämonenangriff noch reißerischer würde.

Dass das angebliche Opfer sich weder daran erinnerte noch irgendwelche physischen Spuren davongetragen hatte, tat nichts zur Sache. Ihrem Chef würde das Wort eines abergläubischen alten Hinterwäldlers, der vermutlich auch nicht mehr gut sah, vollauf genügen, um die Story in Druck zu geben. Zur Hölle noch mal, sie hatten schon Geschichten mit viel weniger Substanz gebracht.

„Meinen Sie, dass ich mit Ihrem Großvater reden könnte über das, was er da gesehen hat?“

„Dylan ist nämlich Journalistin“, fühlte sich die immer hilfsbereite Janet bemüßigt zu erklären. „Sie lebt in New York. Waren Sie schon mal in New York, Vasek?“

„Ich war noch nie dort, aber eines Tages würde ich sehr gern einmal hinfahren“, erwiderte er und sah wieder Dylan an. „Sie sind wirklich Journalistin?“

„Nein, nicht direkt. Eines Tages vielleicht. Momentan schreibe ich nur ... Ich schätze, es fällt in die Sparte Geschichten, die das Leben schrieb.“ Sie lächelte den jungen Wirt an. „Also, was meinen Sie - würde Ihr Großvater sich wohl mit mir unterhalten?“

„Es tut mir leid, aber er ist tot. Letzten Monat hatte er im Schlaf einen Schlaganfall und ist nicht mehr aufgewacht.“

„Oh.“ Dylans Herz krampfte sich in echtem Mitgefühl zusammen. Ihr Hunger nach einer Story war sofort vergessen.

„Mein Beileid, Vasek.“

Er nickte knapp. „Opa hatte Glück. Wenn wir nur alle zweiundneunzig werden wie er, was?“

„Ja“, sagte Dylan und spürte die mitfühlenden Blicke der Freundinnen ihrer Mutter auf sich ruhen. „Das wäre schön.“

„Da sind neue Gäste“, verkündete er, als eine kleine Gruppe die Kneipe betrat. „Ich muss weitermachen. Wenn ich wiederkomme, Dylan, können Sie mir vielleicht von New York erzählen.“

Als er gegangen war und bevor Janet sich begeistert darüber auslassen konnte, was für eine wunderbare Idee es doch wäre, wenn Dylan den anbetungswürdigen jungen Vasek zu sich in die Staaten einlud, ihn heiratete und mit ihm Babys bekam, täuschte Dylan ein perfektes herzhaftes Gähnen vor.

„Oh Mann, ich glaube, ich habe heute zu viel Frischluft abbekommen - ich bin ganz k. o. Heute Abend werde ich nicht mehr alt, ich muss noch etwas arbeiten und ein paar Mails anschauen, bevor ich mich ins Bett haue.“

„Ach, so früh schon, Liebes?“

Dylan nickte Janet matt zu. „Leider. War ein langer Tag heute.“ Sie stand auf und zog ihre Schultertasche von der Lehne ihres hölzernen Kneipenstuhls. Sie suchte genügend tschechische Kronen für ihren Anteil an der Rechnung sowie ein hübsches Trinkgeld für ihren Gastgeber und legte das Geld auf den Tisch. „Wir sehen uns später im Hotel.“

Während sie die kurze Strecke von der Kneipe zu ihrem Hotel hinüberging, juckten ihr schon die Finger nach ihrer Computertastatur.

Sie kam in ihr Zimmer, fuhr den Laptop hoch und versuchte dranzubleiben, während sich die Story auf ihren Bildschirm ergoss.

Dylan lächelte, während sie Gestalt annahm. Jetzt war es kein reiner Bericht mehr über einen alten Steinsarkophag in einer Höhle mit ein paar verstaubten Skeletten drum herum. Nun hatte sie einen echten Schocker: In der Wildnis in der Nähe einer sonst so verschlafenen europäischen Kleinstadt trieb ein lebendiger Dämon sein Unwesen.

Den Text hatte sie fertig.

Was sie jetzt noch brauchte, waren ein paar Fotos von der Behausung des Dämons.

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